Sternstunden. Alexander Estis

Alexander Estis

STERNSTUNDEN DER VERKEHRUNG
Holocaust an Impfgegnern, jüdische Waffen-SS und Selenski-Nazis

Von Alexander Estis. Erschienen in der FAZ vom 18.11.2023

Alles andere als eine Sternstunde israelischer Symbolpolitik: Aus Protest gegen die Resolution der UN zur Lage in Nahost und das Schweigen über die Gräueltaten der Hamas hat sich Israels Botschafter Gilad Erdan vor dem Weltsicherheitsrat jüngst einen gelben Judenstern ans Revers geheftet. Auch wenn er als Nachfahre von Holocaustüberlebenden und Repräsentant des jüdischen Staates eine gewisse Berechtigung dazu fühlen mochte, wurde er für diese Aktion zurecht gerügt, unter anderem von Vertretern jüdischer Gedenkorganisationen. Gerade angesichts seines Amtes und seiner Familiengeschichte hätte er die Unantastbarkeit dieses Symbols respektieren sollen.
Denn rund 80 Jahre nachdem Juden im nationalsozialistischen Deutschland verpflichtet wurden, einen gelben Stern mit der Aufschrift »JUDE« an ihrer Kleidung zu tragen, droht der Missbrauch des Judensterns inflationär zu werden. Dass der Stern heute wieder an die Fassaden von Juden bewohnter Häuser in Deutschland – aber auch in vielen anderen Ländern – gemalt wird, ist dabei nur die ostensiv antisemitische Spitze des Eisbergs.
Von sämtlichen selbsternanten Opfergruppen, zumal im Umfeld der AfD, wird der Judenstern sozusagen als Abzeichen der Kränkung vereinnahmt: Er dient ihnen dazu, sich als Zielscheibe von Repressionen zu inszenieren, die in der Regel nur herbeiphantasiert sind. 2018 etwa hatte ein AfD-Mann beim Bundesparteitag in Augsburg ein Plakat hochgehalten, auf dem unter der Überschrift »Hetze in Deutschland« ein Judenstern dem AfD-Logo gegenübergestellt war. 2019 wurde ein Judenstern mit der Aufschrift »DIESEL-FAHRER« auf einer Kundgebung gegen das Diesel-Verbot getragen; er entstammte dem Onlineshop des AfD-nahen Rechtsextremisten Sven Liebich. Wieder ein Jahr später erweiterte Liebich sein Sortiment um eine andere Art mofizierter Judensterne: »Coronasterne«, in welchen das Wort »UNGEIMPFT« an die Stelle von »JUDE« getreten war. Diese fanden im Zuge der Maßnahmenproteste von Impfgegnern breite Verwendung und erlangten damit medial besondere mediale Präsenz; für einen Skandal sorgte etwa, dass sich Katrin Ebner-Steiner, die bayerische Fraktionsvorsitzende der AfD, neben einem Mann mit Coronastern ablichten ließ und das Foto im Internet postete.
Krude Holocaustmetaphern, wie sie den abgewandelten Judensternen zugrundeliegen, bleiben oftmals genau an der Grenze zum Justiziablen. Vielfach werden sie sowohl von den Gerichten als auch von der Öffentlichkeit lediglich für »geschmacklos« befunden, vielleicht auch für »geschichtsvergessen« oder »revisionistisch«, nicht jedoch für per se antisemitisch und auf strafbare Weise friedensstörend.
Besonders bezeichnend für diese Auffassung ist eine – von der Redaktion des Tagesspiegels kurz nach der Veröffentlichung entfernte – Kolumne von Harald Martenstein; nach einigen interpretatorischen Volten kommt Martenstein darin zu der Einschätzung, der Judenstern sei »sicher nicht antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden.« Viele andere, darunter auch Richter und Rechtswissenschaftler, scheinen dieser Interpretation zu folgen.
In der Tat darf man sich fragen, ob die Selbstdekorierung mit Judenstern nicht bloß historischer und ethischer Unbedarftheit geschuldet ist: Impfgegner wollen sich eben als Leidtragende stilisieren; was läge da näher als eine Gleichsetzung mit der Opfergemeinschaft schlechtin? Und wirklich mag es die berühmten »Mitläufer« geben, die aus solchem Verständnis oder eher Unverständnis heraus nach dem Stern greifen. Den weitaus meisten Akteuren querdenkerischer, verschwörungstheoretischer, neurechter und angrenzender Szenen dürfte die tiefere Mechanik der Judenstern-Analogie jedoch schon intuitiv bewusst sein.


»Die eigentlichen Juden«

Der von Sternträgern insinuierte Vergleich ist nicht einfach ein ungeschickt hinkender – sondern ein auf den Kopf gestellter. Es handelt sich dabei um einen Umkehrvergleich, wie er von Ideologen und Demagogen jeglicher Couleur regelmäßig bemüht wird und mit dem diese keinesfalls eine echte Analogie zu einer Opfergruppe herstellen wollen, geschweige denn eine Identifizierung.
Ganz im Gegenteil: Sie bezwecken damit einzig und allein die Aneignung und Umdeutung eines Narrativs – eine, wie man sagen könnte, Shoahppropriation. Die Sternträger inszenieren sich als die neuen, eigentlichen Juden, also die wahren Opfer von heute, während die alten Juden in ihren Phantasmen umgekehrt als Strippenzieher der Krise und deren kapitalistische Profiteure fungieren.
Dass hierin die wesentliche Intention der Judenstern-Aneignung liegt, belegen einschlägige Kommentare und Posts – in einer derartigen Drastik, wie sie keinerlei Raum für Zweifel lassen dürfte: »Gelber Impfass für alle Goyim… Was hier passiert ist jüdische Rache«, heißt es etwa in einem verschwörungstheoretischen Telegram-Kanal. Und Attila Hildmann stimmt ein: »Die Juden … feiern ihren Endsieg gegen die Goyim, die sie mit Giftspritzen ermorden.«
Das vielleicht beste ikonographische Korrelat zum Judenstern der Querdenker stammt aus einem ganz anderen Kontext und ist inzwischen allseits bekannt. Geliefert hat es die Künstlergruppe Taring Padi, deren Banner »People’s Justice« bei der letztjährigen Documenta für einen Eklat sorgte: Der faschistische Jude mit SS-Rune als Repräsentatnt des Weltkapitals samt dessen repressivem Apparat.
Daneben fand sich auf dem Gemälde ein Soldat des Mossad mit Davidstern und – in Rückgriff auf das bekannte Judensau-Motiv – Schweinefratze. Auch andere Werkgruppen auf der Documenta 15 rückten Juden und Israelis mehr oder minder offen in die Nähe von Faschisten und Nationalsozialisten. Solche israelbezogenen Umkehrvergleiche stehen in einer altunwürdigen Tradition antisemitischer Realitätspervertierungen.
Im Kontext des Nahostkonflikts tauchen sie heute allenthalben auf: Da wird Gaza als »Ghetto« bezeichnet, dem Staat Israel ein Holocaust an den Palästinensern vorgeworfen oder – auf einer Düsseldorfer Demo – Israels militärische Reaktion mit der Vergasung von Juden gleichgesetzt. Dass »Israelkritik« besonders hierzulande selten ohne eine solche Diktion auskommt, dürfte vor allem zwei Ursachen haben: Einerseits die meist von islamistischen Propagandisten oder für Antisemitismus blinden linken Antiimperialisten angeheizte Opferkonkurrenz zwischen Palästinensern und Juden; andererseits die Entlastung der Deutschen vom transgenrationellen Schuldtrauma, welche sich einstellen mag, sobald die jüdischen Opfer von damals als die faschistischen Täter von heute entlarvt werden können.


»Selenskis Ukrofaschisten«

Das psychologisch wohltuende und politisch mobilisierende Potential der Shoahppropriation mit Täter-Opfer-Umkehr haben heute die Populisten aller Länder für sich entdeckt: Heinz-Christian Strache von der österreichischen FPÖ, Christian Blocher von der Schweizer SVP oder auch der rechtspopulistische Niederländer Thierry Baudet vergleichen sich und ihre Parteigänger mit den Juden im Dritten Reich, mit Anne Frank und Sophie Scholl. Und wenn der Münchner Stadtrat Bernd Schreyer die Grünen ausgerechnet zur Verteidigung gegen rechte Hetze mit Juden gleichsetzt, macht das die Sache kaum besser. Zu Höchstleistungen in dieser Disziplin bringt es derzeit freilich eine ganz andere Gruppe, die Entlastung und Rechtfertigung dringend zu benötigen glaubt: »So wie man die Juden im 20. Jahrhundert jagte, so jagt man die Russen im 21. Jahrhundert. Die Russen sind die neuen Juden«, schreibt ein putinnaher Politologe und Duma-Abgeordneter, der in diversen Sanktionslisten figuriert. Sanktionen und Reisebeschränkungen nehmen regimetreue Russen immer wieder zum Anlass, um sich als Opfer einer globalen Russophobie darzustellen – einer Russophobie, die schon morgen zu einem Holocaust führen werde. Wie auch in deutschen Querdenkermilieus wird hier meist im Sinne der Formel »Wehret den Anfängen!« argumentiert: Wo die Mobilität eingeschränkt werde, dort seien Verhaftungen und Deportationen nicht weit.
Es verwundert insofern kaum, dass auch für diese trotzgetriebene, ressentimentgenährte und zugleich larmoyante Selbstviktimisierung die Judenstern-Symbolik eingespannt wird. So sagt die Fernsehropagandistin Olga Skabeewa über die Reisebeschränkungen für Russen: »Es fehlt nur noch, dass sie an uns Sterne verteilen und uns zu den neuen Juden erklären.«
Die gleiche Symbolik verwendet einer der beliebtesten Musiker Russlands, Sergej Schnurow, der hundertmillionenfach angeklickte Clips produziert hat, daneben aber auch odiose Soundtracks für Filme über die paramilitärische »Gruppe Wagner« des jüngst liquidierten Prigoschin. Eines seiner neueren Musikvideos zeigt zwei Tänzer in traditionellen russischen Gewändern mit aufgenähten Davidsternen, die zwar nicht gelb, sondern blau sind, aber in ihrer Funktion klar als stigmatisierende Judensterne erkennbar werden – vor allem in der Verbindung zum Liedtext. Darin fragt sich der Sänger nämlich, ob man den Russen im Westen nicht bald Erkennungszeichen an die Kleidung hängen werde – und in diesem Augenblick weist einer der Tänzer auf seinen Stern. »Der Russe«, singt Schnurow, »ist jetzt wie der Jude im Berlin des Jahres 1940.« Eine Sängerin stimmt mit einem Refrain ein: »Die Mistkerle beginnen Stück für Stück mit dem Genozid.« Am Ende des Songs fordert Schnurow: »Europäer, sag es, wie es ist, schweige nicht: Der Russe ist für Euch der neue Saujude. Am liebsten würdet Ihr uns doch alle im Ofen verbrennen!«
Besonders charakteristisch ist daneben der Artikel eines frankophonen prorussischen Bloggers: »Die Russen von heute sind die Juden von gestern«, lautet die lapidare Überschrift; im Text erfährt man von einer weltweit orchestrierten Unterdrückung russischer Kultur und russischer Menschen, deren letztes Ziel die Vernichtung ihrer Nation sei. Als Illustration dient unter anderem eine Kollage: Vor dem Hintergrund des zerstörten Roten Platzes sind mehrere westliche Politiker zu erkennen: Scholz, die Hand wie zum deutschen Gruß ausgestreckt, Stoltenberg in der Uniform eines SS-Obersturmbannführers, Macron als Hitler mit einer Armbinde, auf der das Parteikürzel LREM ein Hakenkreuz bildet, und von der Leyen, eine EU-Fahne mit Hakenkreuz schwingend; über ihnen ein Judenstern mit dem Schriftzug »RUSSIAN«.
Anhand dieser Darstellung lässt sich ablesen, wie innerhalb solcher Denkmuster Selbst- und Feindbild qua Judenstern verschränkt sind: Stilisiert sich jemand zum »neujüdischen« Opfer seines Feindes, suggeriert er zwangsläufig, dass dieser, gleich einem Faschisten und Nationalsozialisten, nur das ultimativ Böse sein könne.
Dem ultimativ Bösen aber ist nur mit ultimativer Brutalität beizukommen – und zwar präventiv. Im Gegensatz zu den Juden, so endet der Artikel, werde man sich nämlich nicht einfach massakrieren lassen, sondern die Feinde bekämpfen: »Sie sollen keine Gnade und kein Mitleid erwarten: Vom ersten bis zum letzten sollen sie ausgelöscht werden.« Hierunter folgen Fotoportraits westlicher Politiker mit vielsagend über ihre Gesichter gelegten roten Kreuzen.
Die Funktion, Gewalt und Krieg zu legitimieren, ist solcher Shoahppropriation stets inhärent; den Feind als Nazi zu brandmarken bedeutet, ihn zu dehumanisieren, weil ein solcher Unmensch seine Menschlichkeit gewissermaßen verspielt hätte. Genau darin gründet das narrative Gerüst der russischen Kriegspropaganda, die seit Jahren beharrlich eine Entnazifizierung der Ukraine fordert: Die Nachrichtenagentur RIA beruft sich immer wieder auf den »Genozid an der Bevölkerung des Donbas«, wie ihn Putin kurz vor Kriegsbeginn behauptet hat; Margarita Simonjan, die Leiterin des Propagandasenders RT (ehemals Russia Today), warnt ständig davor, dass Russen in der Ukraine in Konzentrationslager deportiert und mit Gas vergiftet werden sollen; fingierte Kriegsverbrechen und Massenmorde heutiger »Ukronazisten« und »Ukrofaschisten« an den Russen werden allenthalben historischen Schilderungen nationalsozialistischer Untaten gegenübergestellt.
Es sind dies Tatsachenverdrehungungen von unermesslicher Perfidie und von unbeschreiblichem Schrecken, wird doch gerade die ukrainische Bevölkerung gemordert, enteignet, aus eroberten Gebieten vertrieben oder deportiert – unter Verwendung faschistoider (»raschistischer«) Parolen und Symbole, zum Beispiel des Kriegszeichens Z, das nicht von ungefähr als halbes Hakenkreuz daherkommt. Wenn also die russische Propaganda der Ukraine ausgerechnet jene Gräuel vorwirft, die sie selbst an ihr verübt, kann das niemand für Zufall erklären wollen: Es handelt sich hierbei um eine Propagandamethode, die »accusation in a mirror«, also »Spiegelanklage«, manchmal auch »Spiegelargument« genannt und als charakteristischer Vorbote von Völkermorden gewertet wird. Denn spätestens seit der Zeit des Nationalsozialismus dienen Spiegelanklagen dem Zweck, die Bevölkerung auf genozidale Verbrechen einzustimmen: Bevor die anderen uns auslöschen, wie sie es planen, müssen sie von uns vernichtet werden – so die paranoidale Logik.
Sie folgt dem gleichen Verkehrungsprinzip wie der Einsatz von Judensternen zur Selbststigmatisierung. Und so findet sie im Fall der russischen Propaganda ihre folgerichtige Krönung darin, dass der jüdische Präsident der Ukraine, dessen Familie nur zum Teil den Holocaust überlebte, als oberster »Ukronazist« auftritt. Außenminister Lawrow bemerkte dazu in einem Interview, dass ja auch Hitler jüdische Wurzeln gehabt habe und dass bekanntlich die schlimmsten Antisemiten unter den Juden selbst zu finden seien. Dem Propagandagläubigen allerdings dürfte ein jüdischer Hitler-Selenski ohnehin ebensowenig widersprüchlich erscheinen wie dem antikapitalistischen indonesischen Politkünstler der Nazi-Zionist mit SS-Rune oder dem neurechten deutschen Impfverweigerer die Selbststilisierung zum Opfer eines jüdischen Pharma-Holocausts.
Derartige antisemitische Verkehrungsnarrative gehören zu den Grundbausteinen und also zum Kitt zwischen unterschiedlichsten extremistischen Ideologien und Verschwörungstheorien. Der putinistische Mythos der Ukrofaschisten etwa wurde innerhalb der deutschen Querdenkerszene ohne Weiteres anschlussfähig. So postete ein inzwischen verurteilter Nutzer auf Facebook einen Ungeimpft-Judenstern mit der Unterschrift »Die Jagd nach Menschen kann wieder beginnen«; später folgte eine Abbildung, die Selenski neben Hitler stellt und Ähnlichkeit suggeriert, darunter der Kommentar: »Der rechts … hatte wenigstens einen Anzug an … und hat nicht gebettelt!«
Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass der Nutzer das Bild direkt oder mittelbar aus dem sogenannten Runet, also dem russischsprachigen Internet, bezogen hat, wo es hundertfach geteilt wurde. Solche Gegenüberstellungen und Vergleiche von Selenski und Hitler sind dort in erdrückender Menge zu finden – nicht selten sogar angereichert um die Unterstellung, Selenski und Hitler seien entfernt miteinander verwandt, natürlich über Hitlers vermeintlich jüdische Vorfahren. Ein gefaketes Buchcover zeigt Selenskis Portrait und den Titel »Mein Kampf«, und bisweilen heißt es, Selenski sei sogar noch schlimmer als Hitler. Russische Propagandisten, Trollarmeen und Geheimdienste üben im Zuge einer hybriden Kriegsführung intensivsten Einfluss auf die deutsche Bevölkerung aus. Laut einer CeMAS-Studie aus dem letzten Jahr stimmen 18 Prozent der Befragten (und mehr als doppelt so viele unter den AfD-Wählern) der Aussage zu, dass Putin gegen eine globale Elite vorgehe, die im Hintergrund die Fäden ziehe – eine altbekannte antisemitische Chiffre, die auch in diesem Fall eine Brücke von der völkisch-deutschen Verschwörungsideologie zur putinistischen Staatsdoktrin schlägt.
Bedenkt man wiederum die politische Nähe zwischen Kreml, Teheran und Hamasführung, so erscheint auch die ideelle Nähe zwischen raschistischer und islamistischer Propaganda als folgerichtig; letztere wirkt ebenfalls nach Deutschland hinein, wo ihr Antisemitismus und Antizionismus in der antiimperialistischen und postkolonialistischen Linken auf offene Ohren stößt.


Symbolische Brunnenvergiftung

All diese Kontinuitäten, deren Nachzeichung man im Übrigen endlos fortführen könnte, zeigen nur allzu deutlich, in welch hochgefährliches Geflecht extremistischer Ideologeme die Verwendung des Judensterns eingebunden ist. Auch wenn sie sich für den oberflächlichen Blick als eine punktuelle, wenig singifikante, diffuse historische Anleihe tarnen mag: Es handelt sich beim Judenstern um eines der wirkmächtigsten Unterdrückungssymbole, und seine Aneignung darf auf keinen Fall als bildungsferne Geschichtsvergessenheit oder bloße Larmoyanz bagatellisiert werden. Denn wir haben es hier mit nichts Geringerem zu tun als – um einen Begriff von Michael Kraske abzuwandeln – symbolischem Radikalismus.
Der radikalsymbolische Umkehrvergleich mittels Judenstern ist, wie aus den geschilderten Fällen hervorgeht, eine »schmutzige Metapher«: Er evoziert nicht nur das eigentliche Vergleichsmoment, also das Opfertum, sondern ruft zugleich das gesamte antisemitisch-verschwörungstheoretische Weltbild auf, und damit nicht zuletzt das uralte, archetypische Bild vom Juden als hinterhältigen Intriganten und Brunnenvergifter, der für sämtliche Seuchen von Cholera bis Covid, für sämtliche Kriege und Krisen verantwortlich sein soll.
Für die Interpretation solcher Radikalsymbolik kann man also von einem fast unumstößlichen Leitsatz ausgehen: Wo die extremistischen Verschwörungstheoretiker »Opfer« sind, da sind die »Täter« Juden. Und neben den Juden auch alle vermeintlich von ihnen Manipulierten – einschließlich Finanzelite, Medien, Bundesregierung, Technologieunternehmen, Pharmaindustrie, »semitischen« und sonstigen Einwanderern, »Amis« und Ukrainern. All diesen Gruppen gegenüber entfaltet die Shoahppropriation mit ihrer inhärenten Verdrehungsmechanik auch eine gewaltlegitimierende Dimension im Sinne einer Spiegelanklage: Sie wollen uns zu Opfern machen – also machen wir sie vorher zu Opfern! Die Jagd auf Menschen ist eröffnet – also jagen wir zuerst!
Exponierte shoahbezogene Umkehrvergleiche sind daher ihrer Natur gemäß immer geeignet, die öffentliche Friedensstörung zu befeuern: Sie sind die eigentliche symbolische Brunnenvergiftung. Wie sie die Kollektivsymbolik infiltrieren, was die einhergehende Verrohung für den medialen und politischen Diskurs bedeutet – all das lässt sich am gegenwärtigen Zustand der russischen Gesellschaft ablesen, an ihrer Faschisierung und Kriegstreiberei.
Diese Deutung und dieses Potential appropriierter Opferattribute muss die Öffentlichkeit ihrer Diskussion, müssen die Gerichte ihrer Rechtsprechung zugrundelegen. Andernfalls laufen sie Gefahr, sich von propagandistischer Verkehrungsakrobatik narren zu lassen. Der radikalsymbolische Judenvergleich, wie er in der Verwendung des Judensterns exemplarisch zum Ausdruck kommt, hat jene von Björn Höcke geforderte einnerungspolitische Wende um 180 Grad bereits vollzogen; ihn zu tolerieren, ihn mehr als wohlwollend zu deuten hieße, dabei zuzusehen, wie die deutsche Gesellschaft dieser visuellen Wende nachfolgt und sich in der Geschichte zurückbewegt. Denn – ein verquerer Vergleich möge auch mir erlaubt sein – aus der Fahrschule weiß man: Man fährt, wohin man schaut.


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